Geschichte der Kirchengemeinde

Die evangelisch-lutherische Kirchengemeinde in Neuenkirchen

von Pastor Jens Möllmann

(Jens Möllmann war Pfarrer in Neuenkirchen von 1997 bis 2012. Der vorliegende Artikel erschien in der Festschrift anlässlich des Ortsjubiläums 850 Jahre Neuenkirchen und wurde uns freundlicherweise zur Verfügung gestellt.)

 

 

1. Lutherische und katholische Reformversuche in Neuenkirchen von 1543  bis zum Dreißigjährigen Krieg

 

   Nachdem Martin Luther im Herbst 1517 mit seiner Kritik an der gängigen Bußpraxis der Kirche an die Öffentlichkeit getreten war, breitete sich die Reformation in den folgenden Jahren im gesamten Reich aus. Ob es auch in den Landgemeinden des Hochstiftes Osnabrück reformatorische Neigungen unter dem Klerus oder der Bevölkerung gab, liegt weitgehend im Dunkeln. Im Jahre 1543 wurde das Kirchspiel Neuenkirchen von Hermann Bonnus gemäß der von ihm verfassten Kerckenordnung vor den landkercken des stiftes Osenbrugge reformiert.

 

   Hermann Bonnus war 1504 in Quakenbrück zur Welt gekommen, hatte ab 1523 in Wittenberg studiert und war seit 1531 oder 1532 erster Superintendent in Lübeck. Nachdem Fürstbischof Franz von Waldeck, zuständig in Personalunion für die Stifte Minden, Osnabrück und Münster, sich der reformatorischen Lehre zugewandt hatte, berief er den Lübecker Superintendenten zur Verwirklichung der Kirchenreform nach Osnabrück. Vom Frühjahr 1543 an reformierte Bonnus  zunächst mit Hilfe einer eigenen Kirchenordnung die Stadt Osnabrück und dann mit der schon erwähnten Landkirchenordnung (Ordinatio magistri Hermanni Bonni.... Exercitium quotidianum in sacris scripturis et psalmis cantandis pro ecclesiis collegiatis‘ ubi praedicatur evangelium, als dar is Quakenbrugge und anders mer. Anno 1543) die Landgemeinden des Hochstiftes. Der Klerus wird darin ermahnt, die reformatorische Botschaft vor allem dadurch zu verbreiten, dass in den  nun obligatorischen Predigten der lutherische Katechismus ausgelegt werde. Als ein weiteres Merkmal reformatorischer Lehre wird die Austeilung des Abendmahles unter beiderlei Gestalt, d.h. mit dem Kelch auch für die Laien, angeordnet. Außerdem ermöglicht die neue Kirchenordnung den Pfarrern die Ehe.

 

   Franz von Waldeck wurde in seinen reformatorischen Bemühungen von der Ritterschaft und dem Stadtrat Osnabrücks unterstützt, sah sich aber der Opposition des Domkapitels gegenüber. Als nach der Niederlage der Protestanten im Schmalkaldischen Krieg 1547 sich auch die politische Lage im Reich zu deren Ungunsten veränderte und des Bischofs kirchliche Opponenten einen Prozess gegen ihn beim Papst in die Wege leiteten, sah jener sich gezwungen, auf dem Oeseder Landtag 1548 die Reformation rückgängig zu machen. In den Gemeinden des Osnabrücker Landes herrschten nun für längere Zeit unklare konfessionelle Verhältnisse, die sich in unterschiedlich durchmischter religiöser Praxis äußerte, wie sie über 60 Jahre später auch für Neuenkirchen bezeugt ist. Die Pfarrer reichten weiterhin beim Abendmahl den Laienkelch und lebten als verheiratete Männer.

 

   Die territoriale Gemengelage Neuenkirchens zwischen den Herrschaftsansprüchen Osnabrücks und Münsters brachte für die Lutheraner, die im Münsterschen Bereich lebten, mit den ab 1613 einsetzenden gegenreformatorischen Bestrebungen seitens ihres Landesherrn Beschwernisse mit sich. Sie hatten von nun an kirchliche Amtshandlungen durch den katholischen Pfarrer vollziehen zu lassen und durften nicht ins Osnabrückische ausweichen, eine Problematik, die auch nach dem Dreißigjährigen Krieg bestehen blieb.

 

   Die Nachfolger Franz von Waldecks auf dem Osnabrücker Bischofsstuhl vermochten an dieser Gemengelage zunächst nichts zu ändern. 1623 trat mit Eitel Friedrich von Hohenzollern-Sigmaringen ein ambitionierter Verfechter des auf den Konzilsbeschlüssen von Trient beruhenden Reformkatholizismus seine Herrschaft an. Er ließ seinen Generalvikar Albert Lucenius 1624 und 1625 die Gemeinden seiner Diözese visitieren, um sich ein Bild von den notwendigen Reformen machen zu können. Das Ergebnis dieser Besuche musste für einen Anhänger der Tridentiner Konzilsbeschlüsse erschütternd sein. Lucenius kritisiert die Pastoren in der Regel als mixti und dubii, d.h. von undeutlicher und zweifelhafter konfessioneller Einstellung. Oft hatten sie von ihren Vätern die Pfarre übernommen, lebten nach katholischer Meinung im Konkubinat, aus lutherischer Perspektive aber verheiratet, und hatten Kinder. Sie reichten das Abendmahl unter beiderlei Gestalt und waren überhaupt mit der altgläubigen Lehre nur wenig vertraut, pflegten aber weiterhin die dem katholischen Erbe zugehörigen Prozessionen. Auch ein lutherischer Visitator hätte über manches, was Lucenius an Erfahrungen sammeln durfte, ein kritisches Urteil gefällt.

 

   Am 15. Mai 1625 besuchte der Generalvikar Neuenkirchen und seinen Pfarrer. Er berichtet 1: Pastor ist Judok Rupert, 1582 in Köln katholisch geweiht, ein alter Mann, älter als 70 und vor 9 Jahren aus der Rietberger Grafschaft und der gleichnamigen Pfarrei vertrieben, ganz ungebildet, ein Lutheraner, der in der ganzen Zeit in dieser Gemeinde nicht die Messe gefeiert hatte und nicht die Form der Konsekration zeigen konnte, als er vor das Meßbuch gestellt wurde. Er war aber bei meiner Ankunft betrunken und ich konnte ihm keine vernünftige Antwort entlocken. Wie mir schien und er selbst auf Fragen zugab, hatte er Brot und Wein nur als äußeres Symbol am letzten Osterfest und womöglich auch sonst dem Volke gereicht, wenn er nicht einige deutsche Worte gemäß der Einsetzung, wie sie selbst sagen, geflüstert oder gesprochen hat. Die Kirche war neu geweißt und durch viele Zeichen entstellt; der Hauptaltar vernachlässigt, die anderen zwei an den Seiten in einem ähnlichen Zustand, einer von ihnen von der Orgel eingenommen. Das Sakramentenhaus des Allerheiligsten war auf die Seite gesetzt, in ihm eine leere Monstranz. In der schrecklichen, regendurchlässigen Sakristei zwei Kelche und einige zerschlissene liturgische Gewänder, die man schändlich vernachlässigt hat. Der Sakristan Heinrich N. war abwesend, katholisch, wie es hieß.

 

   Einmal abgesehen von der inakzeptablen Trunkenheit des Neuenkirchener Pfarrherrn beim Eintreffen des Generalvikars sowie der ärmlichen Verhältnisse an der Pfarrkirche ist das Geschilderte nur aus katholischer Sicht als „schändlich“ zu kritisieren. Im Sinne der Reformation wird zu dieser Zeit die deutsche Sprache im Gottesdienst gebraucht sowie das Altarsakrament stiftungsgemäß unter beiderlei Gestalt der Gemeinde gereicht. Der Hinweis auf die Austeilung von Brot und Wein nur als äußeres Symbol („sola symbola externa“) ist übliche altgläubige Polemik gegenüber der lutherischen Abendmahlspraxis und wird der in Neuenkirchen damals geübten Liturgie nicht gerecht.

 

   Bevor Fürstbischof Eitel Friedrich Konsequenzen aus den Visitationsergebnissen des Lucenius ziehen konnte, verstarb er 1625. Sein Nachfolger Franz Wilhelm von Wartenberg setzte die Rekatholisierung im Osnabrücker Land fort, wurde aber durch die Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges um den Erfolg seiner Bemühungen gebracht. 1633 musste er beim Einmarsch der Schweden fliehen, die einen eigenen Statthalter in der Stadt einsetzten, der nun wiederum eine Rückkehr zum Luthertum anstrebte.

 

   Wie sich diese ständig wechselnde Religionspolitik in Verbindung mit der geistlich-theologischen Unbildung der Pfarrer auf die gelebte Frömmigkeit der Menschen auswirkte, die damals im Kirchspiel Neuenkirchen lebten, kann man bestenfalls erahnen. Ob sie ein ausgeprägtes konfessionelles Bewusstsein besaßen, darf bezweifelt werden, vielmehr werden auch sie mixti und dubii im Sinne des Lucenius gewesen sein. Eine konfessionelle Identität konnte sich vermutlich erst in der Folge der politischen Ergebnisse des Dreißigjährigen Krieges für das Fürstbistum Osnabrück und speziell vier seiner Kirchspiele - unter ihnen auch Neuenkirchen - entwickeln.

 

2. Die Einrichtung des Simultaneums

 

   Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648 stritten sich die Religionsparteien um die Herrschaft im Fürstbistum Osnabrück. Dieser Streit mündete schließlich in einen einmaligen Kompromiss, der sich im Artikel XIII des „Instrumentum Pacis Westphalicae Osnabrugensis” niederschlug. In sog. alternierender Sukzession hatten sich jeweils ein lutherischer und ein katholischer Bischof als Regenten abzulösen. Das Domkapitel besaß das Recht, in freier Wahl einen katholischen Bischof zu bestimmen, wohingegen das Haus Braunschweig-Lüneburg jeweils den lutherischen Herrscher zu stellen hatte. Während dessen Regentschaft übte das Erzbistum Köln die geistliche Herrschaft über die altgläubigen Einwohner aus.

 

   Auf Grund dieser Regelung konnte in Bezug auf die verpflichtende Konfessionszugehörigkeit der Landeskinder nicht einfach nach dem üblichen „Cuius regio eius religio“ verfahren werden, hätten doch sonst die Osnabrücker allesamt in unregelmäßigen Abständen ihr Bekenntnis wechseln müssen. Für jedes Kirchspiel sollte nun die Konfession gelten, die dort am 1. Januar 1624 vorherrschend gewesen war. Über diese Festlegung wurde in der Folge heftig gestritten, zumal man eher etwas über den Bekenntnisstand des jeweiligen Pfarrers als über denjenigen der Einwohner des Kirchspiels eruieren konnte. Gemäß dem Protokoll des Lucenius etwa hätte Neuenkirchen eigentlich als lutherisch eingeordnet werden müssen, bezeichnet er doch den Joduk Rupert als „totus rudis lutheranus“; widersprüchliche Zeugenaussagen machten allerdings eine eindeutige Festlegung unmöglich.

 

   Auf Vermittlung des kaiserlichen Gesandten Isaak Volmar einigte man sich schließlich auf den nach diesem benannten „Volmarschen Durchschlag“. Am 28. Juli 1650 wurde die „Capitulatio perpetua osnabrugensis“ als Verfassung für das Hochstift Osnabrück unterzeichnet; sie blieb bis zur Säkularisation 1803 gültig. 28 Kirchspiele galten als katholisch, 17 als lutherisch und acht Pfarrkirchen mussten doppelpfarrig existieren. Für Neuenkirchen und drei weitere Kirchspiele wurde im Artikel 21 der Capitulatio ein sog. Simultaneum vereinbart:

„Item in diesen vier Kirchspielen Vörden, Gütterslohe, Battbergen, Neunkirche bey Vörden sollen die pfarrkirchen beeden religionen gemein sein also und dergestalt, daß darin die catholische ihren gottsdienst vormittag biß umb neuen und nachmittags umb drey uhren halten mögen. Die pfarreinkünften sollen jeder religion zugewandten pastorn zum halben theil, die iura stola einem jeden pastorn von seinen Religionsverwandten allein ohne des andern eintrag gefolget werden.“

 

   1651 wurde diese grundsätzliche Regelung im sog. Iburger Nebenrezess dahingehend konkretisiert, dass die Kirche im Besitz beider Bekenntnisse bleiben sollte. Chor und Hauptaltar gehörten den Katholiken, ebenso weitere liturgische Gegenstände. Das Kirchenschiff, die Kanzel, die Glocken, die Orgel, die Sakristei sowie der Kirch- und Friedhof sollte von beiden Parteien gemeinschaftlich genutzt werden. Den Lutheranern wurde ein Seitenaltar zugestanden, der vor dem Chorraum aufgestellt wurde. Die Unkosten für die gemeinschaftlichen Kultusangelegenheiten sollten geteilt werden, diejenigen für den spezifisch katholischen Gottesdienst mussten von der altgläubigen Seite getragen werden. Was die Einkünfte aus den oben im Artikel 21 der Capitulatio erwähnten iura stola betrifft, den Stolgebühren aus gebührenpflichtigen Amtshandlungen des Pfarrers wie Taufen, Hochzeiten oder Beerdigungen, hatten die lutherischen Einwohner des Kirchspiels, die münstersche Untertanen waren, religiöse Härten auszustehen. Sie hatten ihre Gebühren nach dem Grundsatz „cuius regio eius religio“ als Untertanen eines katholischen Landesherrn schlicht immer an den katholischen Pfarrer zu entrichten. Die Verteilung des Kirchspiels unter zwei Landesherrschaften erschwerte zusätzlich die an sich schon komplizierten religiösen Lebensbedingungen unter dem Simultaneum. Auch die vereinbarte wechselseitige Nutzung von Pastorei und Küsterhaus erwies sich als nicht praktikabel.

 

 

3. Das Leben unter dem Simultaneum

 

   Die Capitulatio perpetua und der Iburger Rezess hatten die Voraussetzungen für ein Nebeneinander einer lutherischen und einer katholischen Gemeinde im Kirchspiel Neuenkirchen geschaffen. Diese rechtlichen Grundlagen erwiesen sich aber in der Folgezeit als sehr verschieden auslegbar und, was die Nutzungszeiten der Kirche betraf, auch als den tatsächlichen Bedürfnissen vor Ort nicht angemessen. Ob es in den 240 Jahren des Simultaneums neben vielen Konflikten auch so etwas wie ein gedeihliches Miteinander lutherischer und katholischer Christen in Neuenkirchen gab, lässt sich nur schwer feststellen, da die Quellen nur die aufgetretenen Konflikte dokumentieren. Immerhin gab es längere Abschnitte, aus denen wenige oder keine Auseinandersetzungen bekannt sind.

 

   Die Capitulatio perpetua hatte zwar die Nutzungszeiten der Kirche eindeutig festgelegt, damit aber Regeln geschaffen, die von beiden Seiten nur schwer in ein friedliches Zusammenleben umgesetzt werden konnten. Man stritt immer wieder neu um die Einhaltung wie um die - katholischerseits - gewünschte Ausdehnung der einmal vereinbarten Zeiten.

 

   Eine Anekdote aus dem Jahr 1677 dokumentiert die kompromisslose Härte der beiden kirchennutzenden Parteien untereinander. Als der damalige katholische Pfarrer während eines Beerdigungsgottesdienstes die Zeit überschritt, zog sein lutherischer Kontrahent mit einem Leichengefolge laut singend und den Altar zum Opfergang umschreitend in die Kirche ein. Beide Gruppen sangen, beteten und predigten gegeneinander an.

Die Pfarrfrau, die bei aller konfessionellen Gegnerschaft wohl doch das Skandalöse dieser Situation erkannt hatte, wollte vermittelnd eingreifen, wurde aber von ihrem Mann zurückgewiesen: „dies seint Geistliche Sachen darmitt haben die Weiber nicht zu thun.“ Jene wich „confusa“ auf ihren Platz zurück und das unwürdige Spektakel setzte sich noch einige Zeit fort 2. In dem sensiblen Bereich des Umgangs mit verstorbenen Gemeindegliedern einigte man sich später darauf, Katholiken vormittags und Lutheraner nachmittags zu beerdigen.

 

   War man in der Beerdigungsfrage kompromissfähig, so blieben die Fronten darüberhinaus verhärtet. Die lutherische Gemeinde führte wiederholt Klage darüber, dass die Katholiken ihre Nutzungszeiten am Vormittag weit überzögen. Um die Berechtigung dieser Klage zu untermauern, zog man 1751 sogar einen Notar hinzu, der für den 24. und den 29. August dieses Jahres beglaubigte, dass der katholische Gottesdienst nach seiner Uhr erst um 10.45 Uhr bzw. 10.50 Uhr, also fast zwei Stunden zu spät, zu Ende gegangen sei, wobei erschwerend hinzukam, dass die Kirchenuhr um fast eine Stunde nachging. Man stritt sich in der Folge darum, welche (Sonnen-) Uhr die korrekte Zeit anzeige. Der katholische Pfarrer wies das Ansinnen, die Sonnenuhr des evangelischen Kirchenprovisors zu nutzen, mit der Begründung zurück, diese sei nicht nach der Sonne, sondern „nach dem dollsinnigen verrückten Gehirn hießigen Prädicanten“ ( = lutherischer Pfarrer; J.M.) gestellt 3. Wie hart die Fronten der konfessionellen Auseinandersetzung verliefen, wird auch daran deutlich, dass die lutherische Gemeinde kein Verständnis für die Problemlage der Katholiken aufbringen wollte, an Sonn- und Feiertagen vor 9 Uhr sowohl eine Frühmesse als auch ein Hochamt begehen zu müssen, was für die altgläubigen Gemeindeglieder bei den damaligen Lebens- und vor allem Wegeverhältnissen mit großen Beschwernissen verbunden war. Man beharrte auf der Einhaltung einmal geschlossener Vereinbarungen. Die Auseinandersetzung um den Neubau der katholischen Sakristei lässt dann allerdings eine solche Kompromisslosigkeit etwas verständlicher erscheinen.

 

   Die kirchennutzenden Parteien stritten sich im Zusammenhang mit der Neuerrichtung der katholischen Sakristei über einen Zeitraum von beinahe 30 Jahren um die Auslegung des § 6 der Capitulatio perpetua, der dem Archidiakon die Gebäudeaufsicht übertragen hatte. 1738 hatte sich der damalige Amtsinhaber dahingehend geäußert, die katholische Sakristei zu verlegen. Diese Äußerung nahm die katholische Gemeinde als Erlaubnis, ihre Hälfte der bisher geteilten Sakristei sowie das bisherige Gebeinhaus abzureißen und an letzterem Ort eine neue Sakristei zu errichten. „Die evangelische Gemeinde warf den Katholiken vor, die im abgebrochenen Beinhaus gelegenen Totengebeine seien auf dem Kirchhof niedergelegt worden; dabei sei der Schädel des (lutherischen; J.M.) Chirurgen Wanstroth mit nicht vermoderten Haaren zum Vorschein gekommen. Die katholische Gemeinde gab dagegen an, das könne nicht so gewesen sein, denn wie jeder wisse, habe der Chirurg gar keine Kopfhaare gehabt“ 4.

Evangelischerseits war man der Ansicht, jede Änderung der bestehenden baulichen Verhältnisse bedürfe des Einverständnisses der anderen Seite. Außerdem hegte man den Verdacht, die Altgläubigen könnten in der nun größeren Sakristei auch dann Gottesdienst feiern, wenn es ihnen nach den Bestimmungen der Capitulatio perpetua gar nicht zustehe. 1769 einigte man sich schließlich auf den Verkauf eines gemeinsamen Grundstückes, aus dessen Erlös die Anwaltskosten der lutherischen Gemeinde sowie eine Vergrößerung derer Sakristei finanziert wurden.

 

   Man klagte darüberhinaus wechselseitig immer wieder über die Störung der Gottesdienste durch Unholde, die Steine gegen Türen und Fenster warfen. Die Evangelischen monierten das Aufstellen von Heiligenstöcken und Wegekreuzen, wohingegen katholischerseits Übergriffe bei Prozessionen oder das Abfeuern von Kanonen an Fronleichnam beklagt wurde. Immerhin war es etwa ab der Mitte des 18. Jahrhunderts den münsterschen Untertanen augsburgischen Bekenntnisses möglich, ihre Amtshandlungen beim lutherischen Pfarrer vornehmen zu lassen. Die sog. Mischehen, bei denen über die Konfessionsgrenzen hinweg geheiratet wurde, haben in Neuenkirchen anders als sonst in gemischtkonfessionellen Gegenden scheinbar nur zu wenigen Auseinandersetzungen Anlass gegeben 4a.

 

   Aus den folgenden Jahrzehnten bis etwa 1840 finden sich im Pfarrarchiv der lutherischen Gemeinde kaum Spuren von ernsthaften Streitigkeiten. Dieser lange Zeitraum wurde geprägt von zwei Persönlichkeiten als Pfarrer der beiden Gemeinden, die vom Geist der Aufklärung und der Toleranz auch in konfessionellen Angelegenheiten berührt waren. Auf katholischer Seite war dies der Dechant Gieseke, der von 1792 bis zu seinem Tode 1834 in Neuenkirchen amtierte, ein aufgeklärter Geistlicher, der sich mit Pädagogik und Botanik beschäftigte und diesbezüglich auch literarische Spuren hinterlassen hat. Die Beerdigung des lutherischen Pfarrers Buck 1793 in der Simultankirche fand mit seiner und seiner Glaubensgenossen ausdrücklichen Billigung statt. Giesekes Gegenüber war Pastor Krehe, der von 1794 bis 1840 an der Simultankirche seinen Dienst versah. Zu beider Amtszeiten hatte Neuenkirchen schwere Zeiten infolge der napoleonischen Kriege und der damit verbundenen Umgestaltung Europas zu durchstehen, als deren Folge das Kirchspiel nach der Säkularisation des Hochstiftes Osnabrück an das Herzogtum Oldenburg fiel und schließlich mit der endgültigen Grenzziehung zwischen dem letzteren und dem Königreich Hannover erhebliche Gebietsverluste zu verkraften hatte. Das Kirchspiel verlor 1072 Einwohner, die überwiegend lutherischen Bekenntnisstandes waren; es verblieben 2272 Menschen. Zu weiteren Verlusten kam es im Laufe des 19. Jahrhunderts durch die vermehrte Auswanderung nach Amerika. Um 1900 besaß das Kirchspiel noch insgesamt etwa 1500 Einwohner.

 

   Aus der Napoleonischen Zeit ist eine Auseinandersetzung überliefert, die aus der neuen Gesetzgebung des „Code Napoleon“ resultiert, die die Begräbnisstätten aus der Mitte der Kommunen verbannte. Man stritt sich zwischen den konfessionellen Parteien um das Für und Wider eines Kreuzes auf dem neuen Friedhof. Die Lutheraner lehnten schon dessen Aufstellung als ihrem Bekenntnis widersprechend und gar noch dessen Mitfinanzierung kategorisch ab. Im Spätsommer 1809 wurde das Kreuz von unbekannter Hand zerstört. Der oder die Übeltäter konnten allerdings nie ausfindig gemacht werden.

 

   Im Laufe des 19. Jahrhunderts kam es zu einer neuen konfessionellen Profilierung in Deutschland. Auf evangelischer Seite ist da etwa das Reformationsjubiläum 1817 zu nennen oder die Gründung des Gustav-Adolf-Vereins, der sich der evangelischen Minderheiten annahm und eine bewusst antikatholische Tendenz vertrat. Dieser Verein hatte auch in Neuenkirchen zeitweilig eine für eine kleine Kirchengemeinde erhebliche Anzahl von Mitgliedern (im Jahre 1845 beispielsweise 150 bei etwas mehr als 500 Gemeindegliedern). Katholischerseits sind ähnliche Entwicklungen zu verzeichnen wie etwa die Gründung des Bonifatius-Vereins und die Hochschätzung dieser Figur und ihres Grabes im Dom zu Fulda sowie die zunehmenden Konflikte zwischen Preußen und dem Bischof von Münster. Diese Entwicklungen blieben auch in Neuenkirchen nicht ohne Folgen.

 

   Ab 1840 kam es wieder zu Klagen wegen der Überziehung der Nutzungszeiten der Simultankirche. Das Konsistorium in Oldenburg wie auch das Offizialat in Vechta bemühten ein Rechtsgutachten um zu klären, ob die Capitulatio perpetua auch nach dem Übergang an Oldenburg noch Gültigkeit besitze, was schließlich bestätigt wurde. Die Lutheraner beklagten eine mangelnde Parität im Kirchspielausschuss, die ihnen nach der Capitulatio zustände, nun aber, da gewählt würde, nicht mehr gewährleistet sei. Man stellte sich im Jahre 1846 in den „Neuen Blättern für Stadt und Land“ als unterdrückte „ecclesia pressa“ dar, was zu einer heftigen journalistischen Auseinandersetzung Anlass gab. Das Simultaneum wurde von der katholischen Gemeinde mittlerweile als derart starke Belastung empfunden, dass man am 10. Oktober 1870 vor dem großherzoglichen Obergericht in Vechta eine Klage um Aufhebung des Simultaneums einreichte, die aber am 30. November desselben Jahres mit einem Misserfolg endete. Die lutherische Gemeinde hatte auf dem Standpunkt beharrt, dass die Capitulatio perpetua nach wie vor gültig sei und nur durch eine freiwillige Übereinkunft der beiden Parteien vor Ort oder eine entsprechende kirchliche Gesetzgebung, aber nicht auf dem Wege der Klage außer Kraft gesetzt werden könne. Es sollte noch 17 Jahre dauern, bis ein erneuter und schließlich erfolgreicher Anlauf in dieser Angelegenheit unternommen wurde.

 

   Das Klima der Zeit nach 1840 wird aus einer Begebenheit deutlich, die der langjährige Oldenburger Oberkirchenrat Johannes Ramsauer, der selber von 1858 bis 1868 lutherischer Pfarrer von Neuenkirchen war, in seinen Lebenserinnerungen aufgeschrieben hat und die damals weit über die Grenzen der Dammer Berge hinweg Aufsehen erregte. Es geht dabei um das sog. „Dammer Kind“.

„Im Anfang der sechziger Jahre kam nämlicher ein katholischer Kolon aus der Gemeinde Holdorf zu mir und erklärte, dass er zur lutherischen Kirche überzutreten wünsche. Der Mann sah nicht gerade sehr vertrauenerweckend aus... Von seinem Vater hatte er ein umfangreiches Kolonat geerbt ... Nach ihrem (seiner Frau; J.M.) Tode war es mit dem Hauswesen ... rückwärts gegangen... und daher brachten die Verwandten in Damme, die das einzige Kind, das er hatte, eine Tochter, zu sich nahmen, es endlich dahin, daß er unter Vormundschaft gestellt wurde...“  5.

Trotz anfänglichen Widerwillens unterrichtete Ramsauer den Mann ein Jahr lang wöchentlich in den Grundbegriffen des lutherischen Bekenntnisses und nahm ihn schließlich in der Kapelle zu Fladderlohausen in die Gemeinde auf. „Nun verlangte er aber auch, daß seine Tochter in unserer Konfession erzogen werden sollte. Die Verwandten in Damme wollten das Kind aber nicht herausgeben, und es mußte ein Kurator ad hoc bestellt werden, der es ihm oder vielmehr mir, der ich mich erboten hatte, es in mein Haus aufzunehmen, zuführen sollte. Aber als dieser es an einem festgesetzten Tage abholen wollte, hieß es, es sei noch in der Schule, und als es Mittag geworden, erschien es auch nicht, sondern war und blieb verschwunden.“ 6

Ein in Damme später vorgeführtes Mädchen konnte der Konvertit nicht mit Bestimmtheit als sein eigenes identifizieren. Diese Vorladung aber führte zu tumultartigen Szenen unter der dortigen Bevölkerung, die ein juristisches Nachspiel hatten. „Das entführte Kind blieb verschwunden, bis es zu den Jahren gekommen war, wo es sich selbständig über die Wahl der Konfession, der es angehören wollte, entscheiden konnte, und da stellte es sich heraus, daß es bis dahin in einem münsterschen Kloster verborgen gehalten war“ 7.

Die von Ramsauer berichtete Begebenheit ist kein Einzelfall im konfessionellen Konfliktklima des 19. Jahrhunderts; aus Schlesien etwa ist überliefert, dass sich ein Gericht mit der Frage befassen musste, „ob ein evangelischer Pfarrer der Entführung eines Kindes schuldig war, das er in einer Mischehe fälschlicherweise katholisch erzogen sah und deshalb eigenmächtig in ein protestantisches Heim verbrachte - zum Schutz vor ´konfessioneller Vergewaltigung´“ 8.

   In Ramsauers Erinnerungen taucht Neuenkirchen mehrfach auf; als Oberkirchenrat hat er 1891 an den Feierlichkeiten zur Einweihung der lutherischen Apostelkirche mitgewirkt, die nach der Auflösung des Simultaneums erbaut wurde.

 

 

4. Die Auflösung des Simultaneums

 

Nachdem es weder auf dem Verhandlungs- noch auf dem Klageweg gelungen war, das Simultaneum zu beenden, ruhte diese Frage 17 Jahre lang. 1887 wurde der lutherischen von Seiten der katholischen Gemeinde ein neues Angebot unterbreitet. Die katholische Seite sah sich nämlich in die Lage versetzt, die Lutheraner durch die Zahlung einer Abfindung zur Aufgabe des Simultaneums zu bewegen, was diese gerade aus finanziellen Gründen bislang stets gescheut hatten. Ein nach Amerika ausgewanderter Neuenkirchener mit Namen Josef Nurre, der es in seiner neuen Heimat zu beträchtlichem Wohlstand gebracht hatte, erklärte sich nämlich bereit einen großen Anteil des Geldes zu spenden, mit dem die Lutheraner für die Aufgabe ihrer Rechte aus der Capitulatio perpetua abgefunden werden könnten. Nach ausführlichen Verhandlungen unterzeichnete man am 7. Dezember 1888 im Hause des Gemeindevorstehers Huesmann einen Vertrag zur Auflösung des Simultaneums. Zwei Mitglieder des lutherischen Kirchenrates verweigerten allerdings ihre Unterschrift, war man doch auf protestantischer Seite bis zuletzt voller Zweifel, ob eine so kleine Gemeinde auf Dauer das große Projekt finanzieller Selbständigkeit und des Baues einer neuen Kirche werde schultern können9.

 

   Im Vertrag10 verpflichtete sich die katholische Gemeinde zur Zahlung von 30 000 Mark sowie zur Bereitstellung eines Grundstückes für den Kirchbau samt Friedhof. 1500 Mark sollten zur Einrichtung eines Fonds gezahlt werden, aus dem die Erhaltung der verschiedenen Gebäude der evangelischen Gemeinde finanziert werden könnten. Das gemeinsame Kirchenvermögen sollte paritätisch aufgeteilt werden. Außerdem erklärten sich die Katholiken bereit, Transportleistungen während der Bauzeit der neuen Kirche zu übernehmen. Als Termin zur Fertigstellung des Kirchbaus wurde ein zeitlicher Korridor vom 1. Mai 1891 bis zum 1. Mai 1892 festgelegt. Man bestimmte darüberhinaus einen Trennungsausschuss zur Durchführung und Überwachung des vertraglich Vereinbarten. Diesem Gremium sollten die bisherigen Verhandlungsführer beider Seiten, die jeweiligen Pfarrer sowie als Leiter der Amtshauptmann angehören. Sogar an ein Schiedsgericht war gedacht, falls der Trennungsausschuss zu keiner Einigung finden sollte. Für ihn waren vorgesehen drei Pastoren, je einer vom Offizialat in Vechta und vom Oberkirchenrat in Oldenburg ausgewählt „und der Obmann - in Ermangelung einer Verständigung der beiden Mitglieder - vom Großherzoglichen Raatsministerium, Departement der Justiz bestimmt“ 11.

 

 

5. Der Bau der Apostelkirche 12

 

   Nach den Plänen von Oberbauinspektor Wege aus der staatlichen Baudirektion in Oldenburg begannen die Bauarbeiten an der neuen Kirche im März 1890. Im Beisein des Großherzogs wurde am 22. April 1890 der Grundstein gelegt. Den von der katholischen Gemeinde angebotenen Standort, deren  ehemaligen Küstergarten gegenüber dem lutherischen Pastorat, hatte man akzeptiert. Als Material für das Mauerwerk verarbeitete man gelblich-weiße Sandsteine aus den Steinbrüchen Hagedorn in Ueffeln bei Bramsche. Gesimse, Maßwerke und Fensterstäbe fertigte man aus dem weißen Ibbenbührer Sandstein von den Steinbrüchen Zumwalde bei Ibbenbühren. Die eichene Holzkonstruktion des Turmes und des Daches wurde mit englischem Schiefer gedeckt. Gemäß den Vorgaben des sog. Eisenacher Regulativs zum Bau evangelischer Kirchen, dem entsprechend man sich damals beim Neubau an den Maßstäben der Romanik und der Gotik orientieren sollte, plante Wege eine neugotische Kirche in Kreuzform mit ausgeprägten Seitenschiffen, da einer Ost-West-Ausdehnung wegen der benachbarten Straßen enge Grenzen gesetzt waren. Dazu passte auch die Innenausstattung in historisierender Form für den Altar, die Kanzel, die Fenster, die Empore und die Leuchter. Die Orgel wurde in Oldenburg von der Orgelbauwerkstatt Schmid angefertigt. Die Firma Otto aus Hemelingen bei Bremen lieferte die drei Glocken. Der Großherzog stiftete die Glasfenster mit den vier Apostelköpfen (im Norden Petrus und Paulus, im Süden Bartholomäus und Johannes), die von der Königlichen Glasmalereianstalt Nürnberg hergestellt wurden.

 

   Die Baukosten explodierten von geplanten etwa 30 000 Mark in eine Höhe von zuletzt 56 000 Mark, so dass am Ende auf eine Ausmalung des Kircheninneren verzichtet werden musste. Sie wurde 1905 - ebenfalls in historisierendem Stil - nachgeholt. Der Oberkirchenrat half mit zwei Anleihen in Höhe von 10 000 bzw. 3500 Mark. Aus der näheren und weiteren Umgebung flossen Geld- und Sachspenden nach Neuenkirchen. Die diesbezügliche Auflistung umfasst 27 Positionen, von denen einige Beispiele hier erwähnt seien 13. Eine Haussammlung im benachbarten preußischen Kreis Bersenbrück erbrachte 2479 Mark. Der Kirchenkreis Wildeshausen spendete den Taufstein mit Schale und Decke im Wert von 316 Mark. Die Familie des früheren Neuenkirchener Kaufmanns Meyer finanzierte mit ca. 200 Mark Altarbekleidung, Evangelienpultdecke, Kelch und Patene, die des früheren Apothekers Meyer mit 500 Mark fünf farbige Glasfenster für den Chorraum. Die Kirchenräte in Oldenburg, Stollhamm und Abbehausen spendeten 420, 300 bzw. 100 Mark.

 

   Zur Einweihung der neu erbauten Apostelkirche am 30. Juni 1891 gelang es dem damaligen lutherischen Pastor Köster neben vielen anderen Honoratioren den gesamten Oberkirchenrat und vor allem den Großherzog für eine Teilnahme zu gewinnen. Die Festlichkeiten begannen mit einer Abschiedsandacht in der Simultankirche, anlässlich derer der frühere Neuenkirchener Pfarrer und seinerzeitige Oberkirchenrat Ramsauer predigte, während sein Kollege Hansen nach dem Einzug in die Apostelkirche dort das Wort ergriff. Die Zeit des Simultaneums war vorbei, die lutherische Gemeinde selbständig und Besitzerin einer nach damaligen Vorstellungen „modernen“ Kirche.

 

6. 1893 bis 1936 - Die Ära Karl Roth

 

   Zwei Jahre nach der Einweihung der Apostelkirche wurde die Neuenkirchener Pfarrstelle mit Pfarrer Karl Ernst Johann Roth besetzt, einem am 14. November 1865 in Bruch bei Vegesack geborenen Pastorensohn, der zuvor als Hilfs- und Vakanzprediger in Rensefeld (Fürstentum Lübeck), Altenhuntorf, Zetel und Edewecht gewirkt hatte.

„Am 8. Oktober 1893 fand in Neuenkirchen eine Wahl statt, zu der er nicht aufgetreten war. Von den 170 Stimmberechtigten, von denen 98 auf Neuenkirchen und 72 auf Fladderlohausen entfielen, hatten 99 ihre Stimmen abgegeben, von denen auf den ersten Wahlprediger 1, auf den zweiten 51 und auf den dritten 47 Stimmen fielen, so daß die Wahl zersplitterte. Roth wurde sodann am 27. Oktober hierher als Pastor ernannt und am 26. November 1893 hier introduziert“ 14.

In seine Amtszeit fallen die bereits erwähnte Ausmalung und Fertigstellung der Apostelkirche sowie der Bau einer eigenen kleinen Kirche für die evangelischen Einwohner von Damme im Jahre 1905, der späteren Laurentiuskapelle. Bis 1949 wurden die Evangelischen im Kirchspiel Damme vom Neuenkirchener Pfarramt mitversorgt. In Fladderlohausen hielt Pastor Roth in einem in der evangelischen Schule eigens dafür hergerichteten Raum Gottesdienst. Gegen Ende seiner Dienstzeit (1936) durfte er noch den Bau und die Einweihung der dortigen Christuskirche erleben.

 

   Eine für die evangelische Kirchengemeinde Neuenkirchen bedeutsame Weichenstellung verbirgt sich hinter einer kurzen Notiz aus dem Protokoll der Sitzung des Kirchenrats vom 15. Februar 1897.

 

„ ... 3. Es wird die Frage angeregt, ob es sich empfehle, daß an den Hauptfesttagen einige (1 oder 2 ) Chorlieder des kleinen Chores, der am Weihnachtsabend gesungen hat, in den Gottesdienst eingeschoben werden. K. Rat (=Kirchenrat; J.M.) steht vorläufig der Sache teils zweifelhaft teils ablehnend gegenüber. Doch wird die Frage weiterer Erwägung resp. Erkundigung anheimgegeben“ 14a.

 

Karl Roth leitete fortan bis zu seiner Emeritierung den  „Gemischten Chor“, seit 1920 unterstützt vom Lehrer Müller. Höhepunkte des Chorjahres waren die Auftritte zur Christvesper am Heiligen Abend sowie das Weihnachtskonzert in einem der örtlichen Säle. Die Gründung des Chores war Ausdruck seiner großen musikalischen Begabung, aus der heraus sich für die evangelische Gemeinde ein Schwerpunkt ihres Gemeindelebens entwickelte, der bis in die Gegenwart hinein Bestand hat. Roths allem konfessionellen Hader entgegenstehende innere Liberalität mag auch ein Hinweis bezeugen, den der Autor dieser Zeilen dem emeritierten katholischen Pfarrer Heinrich Stickfort verdankt, der aus dem hannoverschen Teil der Bauernschaft Bieste stammte und im Bistum Osnabrück seinen Dienst versah. Stickfort wusste zu erzählen, dass er, als sich sein Berufswunsch Priester zu werden mehr und mehr verdichtete, sich vor die Notwendigkeit gestellt sah, die lateinische Sprache zu erlernen. Über alle Bekenntnisgrenzen hinweg erteilte Karl Roth dem jungen Mann Privatunterricht. Im Kirchenkampf, der auch in der Oldenburgischen Kirche nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten und als Folge von deren Kirchenpolitik aufflammte, drückte Pastor Roth - vermutlich im Anschluss an seinen Sohn, den Ahlhorner Pastoren Hans Roth - im Dezember 1934 seine Unterstützung für die Sache der Bekennenden Kirche aus 15.

 

1931 visitiert der Oberkirchenrat Pastor Roth und seine Kirchengemeinde. Im Pfarrarchiv ist der Visitationsbescheid vom 26. Oktober 1931 abgelegt. Neben allerlei Erfreulichem wird ein strukturelles Problem der Gemeinde ansgesprochen.

 

„ ..., so muß doch auch mit ganzem Ernst auf den äußeren Bestand der Kirchengemeinde gesehen werden. Der Oberkirchenrat kann sich der Befürchtung nicht verschließen, daß die Abwanderung aus der Gemeinde während der letzten Jahrzehnte bis heute einen bedenklichen Umfang angenommen hat, und mit Sorge mußte die Mitteilung aus der Mitte der Kirchenältesten entgegengenommen werden, daß auch fernerhin mit einer Abwanderung evangelischer Gemeindegenossen zu rechnen ist“ 16.

 

   Für die kleine Diasporagemeinde ist das, was man später als „demographischen Wandel“ problematisieren wird, schon seit dem 19. Jahrhundert eine ihre pure Existenz betreffende Problematik.

 

   Roths angegriffene Gesundheit ließ die Oldenburger Kirchenleitung den Hilfsprediger Sibo Kunstreich zu seiner Unterstützung nach Neuenkirchen schicken. Wenn Sibo Kunstreich auch nur kurze Zeit und unter dem offiziellen Vakanzverwalter Pastor Bultmann aus Ganderkesee in Neuenkirchen wirkte, hat er doch etwas Besonderes hinterlassen, seine Briefe, darunter auch einige, die er von Neuenkirchen aus an Freunde und Verwandte geschrieben hat. Aus einem Brief vom 13. Dezember 1936 an einen Hans Petersmann seien hier einige Passagen als Stimmungsbild der damaligen Zeit wiedergegeben:

 

„Es gäbe viel zu erzählen. Ich sitze - Ironie des Schicksals - als Vakanzprediger im stockkatholischen Neuenkirchen - am Ausläufer des Wiehen-Gebirges. Meine Diaspora-Gemeinde umfaßt etwa 800 Seelen und erstreckt sich auf ein Terrain von etwa 30 x 30 km, allwo sich 3 Kirchen befinden. Ich kam hierher als Vertreter des Vorgängers, der erkrankt war - und fand märchenhafte Zustände vor - „Lieber Herr Kollege, der konfessionelle Friede wird hier im Wirtshaus geschlossen“ ...

Ich habe einen wunderbaren Kirchenbesuch - und die katholische Umgebung färbt doch in Amtsauffassung der Menschen usw. ziemlich ab. So habe ich das, wovor mir bange war. Aber ich erlebe an meinem Schwager Egge Habben, Pastor in Rastede, die Nöte der leeren Kirchen - so wollen wir nur zufrieden sein. Man sieht besser auf die Arbeit als auf den „Erfolg“.

Ich lebe im Pfarrhaus - das nach meinen Plänen und Angaben von Grund auf wieder renoviert wird. Es ist am Einfallen. Mein Vorgänger war 42 Jahre hier. Meine Schwester Käthe führt mir den Haushalt - wir haben uns ein paar schöne Südzimmer eingerichtet, und es ergoß sich bereits ein Strom von Freunden durch das Haus. Die kleine, aber weit verstreute Gemeinde erfordert viel Zeit und Kraft. Ich erobere mir zur Zeit immer neue Landschaften meines weiten Reiches - und am Abend bringt man viel heim. Gestern abend war ich dann noch im benachbarten Damme - das Landestheater von Oldenburg: Kabale und Liebe. Glänzend gespielt - mir ging ein langer Jugendtraum, der sich um dies Stück gedreht hat, leibhaftig in Erfüllung...“ 17.

 

   Sibo Kunstreich ist vermutlich auch dafür verantwortlich, dass sich der Neuenkirchener Kirchenrat nach der Emeritierung Karl Roths als Nachfolger um jenen selber und - als das nicht möglich war - um den im Brief erwähnten Pastor Egge Habben aus Rastede als neuen Prediger an der Apostelkirche bemühte18. Kunstreich wurde nach Varel versetzt.

 

 

7. 1936 bis 1956 - Vom Nationalsozialismus in die Nachkriegsjahre

 

   Wie sehr die Frage der Wiederbesetzung der Pfarrstelle in Neuenkirchen von den kirchenpolitischen Auseinandersetzungen innerhalb der Oldenburgischen Kirche geprägt war, lässt sich zwar aus den Unterlagen im Pfarrarchiv nicht erheben, kann aber aus anderer Quelle nachgezeichnet werden. Der damalige Pfarrer von Tossens Friedrich Ramsauer hatte Interesse an einer Übernahme des Pfarramtes und war diesbezüglich aktiv geworden, wie aus den Recherchen seines Sohnes hervorgeht.

 

   „Die ... Bemühungen Ramsauers um Neuenkirchen wurden vom Oberkirchenrat schon im Vorfeld abgeblockt. Ramsauer hatte sich mit dem ihm freundschaftlich verbundenen, katholischen Apotheker aus Tossens, Georg Esselbach (1891 - 1960), nach dorthin auf den Weg gemacht, um sich umzuschauen und seine Bewerbung einzuleiten. Die Pfarrstelle wurde seit dem 1.12.1937 durch den Vakanzprediger Hauenschild (geb. 1910) verwaltet. Dieser hatte sich als Hilfsprediger der Landeskirchenregierung unterstellt und sich selbst um Neuenkirchen beworben. Hauenschild setzte den Oberkirchenrat von dem Vorhaben Ramsauers in Kenntnis. Eine Aktennotiz von Oberkirchenrat Dr. Müller-Jürgens vermerkt hierzu: „Vor einiger Zeit erzählte mir Herr Pfarrer Hauenschild, daß Pfarrer Ramsauer, Tossens, mit dem katholischen Apotheker in Neuenkirchen eingetroffen sei, um sich nach den Bewerbungsmöglichkeiten zu erkundigen. Dadurch habe er schon alle Aussichten sich verscherzt, abgesehen davon, daß damals der Verzicht auf die Wahl schon beschlossen war. Ich habe dies Pfarrer Ramsauer, Tossens, mitgeteilt, als er mich am 13. 6. aufsuchte. Er antwortete, der Apotheker sei zwar katholisch, seine Frau aber evangelisch und eine seine besten Kirchgängerinnen. Damit war die Angelegenheit erledigt.“

 

   Auch den Besuch eines anderen Bewerbers, der in Begleitung der Bekenntnispfarrer Kloppenburg und Chemnitz in Neuenkirchen erschienen war, hatte Hauenschild in einem schriftlichen Bericht an den Oberkirchenrat angezeigt ... Der Kirchenrat entschied, auf eine Wahl in Neuenkirchen zu verzichten und die Besetzung mit dem derzeitigen Stellenverwalter vom Oberkirchenrat vornehmen zu lassen ...

Ohne die drei übrigen Interessenten - es handelte sich neben Ramsauer um den Vakanzprediger Rogge (1904 -1977), Golzwarden, und um Pastor Walter Hoyer (1907 - 1944, verschollen), Bardewisch, Warfleth, - den Weg zur Vorstellung vor der Gemeinde freizugeben, berief der Oberkirchenrat Hauenschild unter Abkürzung von dessen kirchlichem Hilfsdienst vom 1. 7. 1938 zum Pfarrer in Neuenkirchen“ 19.

 

   Johann Peter Hauenschild war am 15. September 1911 in Oldenburg zur Welt gekommen und hatte nach dem Abitur ab 1932 in Göttingen, Erlangen und Tübingen Theologie studiert, kirchlichen Hilfsdienst in St. Joost-Wüppels und in Oldenburg geleistet, bevor er im Anschluss an seine Ordination am 11. Juli 1937 in Oldenburg nach Neuenkirchen kam. Er musste den Tod seiner ersten Frau im Jahre 1941 erleben. 1956 wechselte er mit seiner zweiten Frau und dem gemeinsamen Sohn auf die Pfarrstelle in Hammelwarden und beendete seine Dienstzeit als Krankenhauspfarrer in Sanderbusch. Er verstarb im Herbst 1998 in Oldenburg.

 

   Wenn auch die Archivalien im Pfarrarchiv aus der Zeit des Nationalsozialismus nur spärlich und wenig aussagekräftig sind, lässt sich doch manches Typische für diese Epoche auch in Neuenkirchen beobachten. Es seien hier vor allem die Kirchenaustritte erwähnt, mit denen die Kirchen überall in Deutschland vom Ende der Dreißiger Jahre an konfrontiert waren. Die erste vorhandene Austrittserklärung aus der evangelischen Kirche vor dem zuständigen Amtsgericht Damme datiert vom 31. Dezember 1936, die letzte vom 17. November 1943. Die Austritte betreffen nicht nur Neuenkirchen, sondern auch Damme und Fladderlohausen. Ein gebürtiger Neuenkirchener erklärt seinen Austritt am 7. November 1938 in Bad Essen. Von den 29 Dissidenten aus dieser Zeit stammen nur je einer aus Fladderlohausen und einer aus Damme, alle anderen sind außerhalb geboren. Die Herkunftsorte dieser Menschen reichen von Hamburg bis nach Rotenburg an der Fulda und von Borkum bis Rügen.

Die Neigung evangelischer Christen, die in der hiesigen Diaspora aufgewachsen und religiös geprägt worden sind, zum Kirchenaustritt scheint ungleich geringer gewesen zu sein als diejenige derer, die in rein evangelisch bewohnten Gebieten ihre Wurzeln hatten 20.

 

   Nach dem Ende des Krieges begehrten viele, die vormals ausgetreten waren, die Wiederaufnahme in die evangelische Kirche. Die Briefe mit der Bitte um den Eintritt sind insofern interessant, als sie anders als die Austritte nicht nur aus vorgefertigten Formularen bestehen. Wer eintreten wollte, schrieb zumeist eine persönliche Begründung für sein Ansinnen. Der Oberkirchenrat hatte bereits am 30. Juni 1945 ein Rundschreiben an alle Gemeinden verschickt, das Richtlinien für die Wiederaufnahme von ausgetretenen Gemeindegliedern in die Kirche vorschrieb. Derartige Personen hatten sich persönlich beim Pfarrer anzumelden, wurden von diesem auf eine Liste gesetzt und durften in der Regel erst nach einer Frist von sechs Monaten und nach einer seelsorgerlichen Besprechung, ob dem Antragsteller die Aufnahme gewährt werden solle, aufgenommen werden. Außerdem war der Gemeindekirchenrat zu hören 21.

Pastor Hauenschild legte eine Liste der Aufnahmewilligen an, die vom 2. Dezember 1945 bis zum 27. April 1947 reicht und 11 Personen umfasst. Zwei Beispiele seien hier angeführt. Ein Aufnahmeantrag aus Damme ist vom 3. August 1945 datiert und von zwei Ehepaaren unterschrieben:

„Ich bitte um Aufnahme in die ev.luth. Kirche. Mein Austritt erfolgte s.Zt. infolge der damaligen Strömung“ 22. Ausführlicher ist das Gesuch eines Lehrers aus Holdorf, der dort in einem Behelfsheim wohnte, vom 2. April 1947.

„Ich bitte den Gemeindekirchenrat, mich wieder in die Ev. Kirche aufzunehmen. Auf Grund meiner politischen Einstellung wurde ich im Jahre 1933 auf 5 Monate, im Jahre 1936 auf 3 Monate aus meinem Amte entlassen u. nur „auf Widerruf“ wieder eingestellt. Eine Anstellung im Beamtenverhältnis „auf Lebenszeit“ wurde an den Kirchenaustritt gebunden. Um meine Familie vor Not zu bewahren, gab ich der Forderung nach und trat aus der Ev. Kirche aus. Da die seinerzeitigen Voraussetzungen gefallen sind, bitte ich den Ev. Kirchenrat, mich wieder in die Ev. Kirche aufzunehmen“ 23.

 

   Das Gemeindekirchenratsprotokoll vom 27. Juni 1946 vermerkt für den Kirchenrat gleichsam in eigener Sache unter dem Tagesordnungspunkt 1: „Entnazifizierung. Der Kirchenrat stellt zu diesem Punkte hinsichtlich der einzelnen Mitglieder fest: ...“. Von den 10 Mitgliedern des Gremiums war einer „Parteigenosse“, vier waren „Mitglied der DAF“ (Deutsche Arbeitsfront; J.M.), alle anderen einschließlich des Pastors Hauenschild nach eigener Aussage „kein Parteimitglied usw.“ 24.

 

   Die stärksten Herausforderungen, vor die sich der Pfarrer, seine Kirchenältesten und die ganze Gemeinde gestellt sahen, waren mit dem Ende des Krieges und dessen Folgen aber wohl ganz andere. Es galt, das sprunghafte Anwachsen der Gemeindegliederzahlen durch den Zuzug von evangelischen Christen zu verkraften, die ihre Heimat im Osten hatten verlassen müssen. Verzeichnet das Beerdigungsregister der Kirchengemeinde für die Jahre 1943 und 1944 noch je sechs bzw. sieben Verstorbene, neben denen auch eine bzw. sechs Totenfeiern für im Krieg gefallene Männer aufgelistet werden, steigt die Zahl im Jahre 1945 sprunghaft auf 46 Einträge. Am 26. März 1945 fand erstmals eine Beerdigung eines Menschen statt, den die Wirren des zu Ende gehenden Krieges nach Neuenkirchen gebracht hatten. Eine 22jährige junge Frau aus Ostpreußen wurde beerdigt, die an Scharlach verstorben war. Für das Jahr 1946 sind 28 Beerdigungen verzeichnet, für 1947 15 und ab 1948 pendelt sich die Anzahl bei 10 bis 12 ein. Eine sehr ähnliche Entwicklung zeigt sich auch bei den Taufen, den Trauungen und den Konfirmationen. Im Taufregister finden sich aus  den ersten Nachkriegsjahren noch einige sog. Nachtaufen. Eltern, die dem Nationalsozialismus weltanschaulich verbunden gewesen waren, hatten nicht selten ihre Kinder in den Jahren des Dritten Reiches nicht taufen lassen und waren nun bemüht dieses nachzuholen. Besonders deutlich wird das an der Taufe dreier Geschwister, deren Eltern beide aus der Kirche ausgetreten waren. Der Vater war früher in der SS  aktiv gewesen und nun zum Zeitpunkt der Taufe unbekannten Aufenthaltsortes. In Anlehnung an das zu den Aus- und Eintritten Ausgeführte könnte man auch in diesen Fällen, die so in ganz Deutschland zu finden waren, davon sprechen, dass die Taufen „s.Zt. infolge der damaligen Strömung“ unterblieben waren. Die neue Zeit ließ zumal in einem derart konfessionell geprägten Kirchspiel wie Neuenkirchen solche Nachtaufen als notwendig erscheinen.

 

   Der Zuwachs an Gemeindegliedern und der daraus resultierende rasante Anstieg der Beisetzungen führten dazu, dass der ev. Friedhof an der Südseite der Apostelkirche sich als zu klein erwies. Die Kirchengemeinde erwarb 1950 ein Gelände an der Bergstraße am Ortsausgang in Richtung Damme, das seither als ev. Friedhof dient. Der alte Kirchhof wurde nach und nach als Begräbnisstätte aufgegeben. Die erste Beisetzung auf dem neuen Friedhof fand am 3. Januar 1951 statt. Hermann Heinrich Friedrich Knollenberg, nach Kriegsende kurze Zeit Bürgermeister der Gemeinde Neuenkirchen, wurde zu Grabe getragen.

Hatte Pastor Hauenschild neben den evangelischen Neuenkirchenern wie seine Vorgänger auch diejenigen in Fladderlohausen und in Damme mitzuversorgen, machte der Zustrom von Heimatvertriebenen und Flüchtlingen diese Aufgabe nach Kriegsende zusehends beschwerlicher, zumal unter den damaligen Verkehrsbedingungen - vielen älteren Gemeindegliedern ist P. Hauenschild als Fahrradfahrer auf dem Weg nach Damme oder Fladderlohausen in Erinnerung. Unter der großen Zahl von Evangelischen, die nach Damme gekommen waren, befand sich auch der Pfarrer Hans-Georg Berg aus Kolberg in Pommern, der schon am Reformationstag 1945 erstmalig in der kleinen evangelischen  Kapelle dort Gottesdienst hielt. Im Frühjahr 1947 wurde Damme Kapellengemeinde und zweieinhalb Jahre später wurde dort eine eigene Pfarrstelle eingerichtet, deren erster Inhaber Pastor Berg wurde 25. Pastor Hauenschild war nur noch für Neuenkirchen und Fladderlohausen zuständig.

 

   Einen Einblick in das Gemeindeleben der frühen Nachkriegsjahre vermittelt der vom damaligen Oldenburger Bischof Stählin verfasste Bericht über die Visitation im Sommer 1948, aus der einige längere Passagen zitiert werden sollen.

„Der Gesamteindruck bestätigte das Bild ... einer durch ihre Geschichte, durch den früheren Zusammenhang mit der Hannoverschen Kirche und durch die Diaspora-Situation geprägten Gemeinde, die noch stärker, als es in den anderen Oldenburgischen Gemeinden der Fall sein mag, auf die Wahrung der überlieferten Sitten und Ordnungen bedacht ist, eine gute Kirchlichkeit, die z.B. hinsichtlich der Abendmahlsziffern weit über dem Durchschnitt der oldenburgischen Gemeinden liegt, treu bewahrt und jeder Änderung abhold ist. Die unzweifelhafte Beliebtheit von P. Hauenschild beruht abgesehen von seinem unzweifelhaften Fleiß zu einem erheblichen Teil darauf, daß er sich diesem konservativen Verlangen ... vollkommen anpaßt und auch in Kleinigkeiten ... oder in bestimmten Einzelzügen gottesdienstlicher Ordnung jede Änderung vermeidet... Der Kirchenrat ist, in durch jene Gesamtsituation gezogenen Grenzen, zweifellos auf seine kirchliche Verantwortung anzusprechen; es geschieht manche freiwillige Arbeit (wie z.B. der Friedhof durch freiwillige Pflege der Nachbarn in einem guten Zustand ist), und schon der Wunsch, in allen Fragen der sittlichen Zucht und Ordnung der katholischen Gemeinde überlegen zu bleiben, treibt nicht nur die Ältesten, sondern die gesamte Gemeinde an, für die Aufrechterhaltung solcher Ordnung zu sorgen....

Der Gottesdienst war gut besucht; ... Der Gottesdienst wird nach der alten Oldenburger Ordnung gehalten, nicht ohne daß auch darin wieder einige der lokalen Sondertraditionen sich zeigten. ... Die Predigt über den vorgesehenen Predigttext 1. Petr. 3, 18-22 war inhaltlich gut und zeugte von einer sorgfältigen Beschäftigung mit diesem beziehungsreichen Text; ...

   Organist ist Hauptlehrer Hörmann, der auch während der Zeit des Nationalsozialismus dieses Amt bekleidet und dafür manche Anfeindungen erlitten hat. Das Orgelspiel vermag den Gemeindegesang gut zu führen, kann ihn freilich nicht (und will ihn wohl auch nicht) aus einer etwas zähflüssigen Langsamkeit zu frischem Tempo herausreißen. Die Gemeinde hängt an der Sitte der Zwischenspiele zwischen den einzelnen Versen; ... 26

 

   Wie zwei Protokollen von Gemeindekirchenratssitzungen aus dem Jahr 195627 sowie einem Hinweis im Visitationsbescheid zwei Jahre später28 zu entnehmen ist, musste sich Pastor Hauenschild noch kurz vor seinem Wechsel an die Unterweser mit Unregelmäßigkeiten in der Finanzverwaltung der Kirchengemeinde plagen, die schließlich das Ausscheiden des Kirchenrechnungsführers nach sich zogen.

 

 

8. 1956 bis 1996 -

Von konfessioneller Abgeschlossenheit zu ökumenischer Öffnung

 

   Im Herbst 1956 wurde der Pfarrer Walter Studt von den Ältesten aus Neuenkirchen und Fladderlohausen zum Nachfolger Pastor Hauenschilds gewählt. 1903 in Kiel geboren als Sohn eines Kapitäns, absolvierte er in Wilhelmshaven bis zum Abitur 1922 seine Schullaufbahn. Bis 1928 studierte er in Göttingen und Kiel Theologie, Philosophie, Geschichte und Germanistik. Seinen kirchlichen Hilfsdienst leistete er im Brandenburgischen. 1940 wurde er ordiniert und kurze Zeit später Stiftspfarrer und Vorsteher des Diakonissen-Mutterhauses in Lehnin (Mark). Nach dem Kriege war er ab Sommer 1946 im Schuldienst in Neuruppin tätig, vom 1. November 1947 an als Oberstudiendirektor in der dortigen Fontaneschule. Nachdem er mit seiner Familie nach Westdeutschland übergesiedelt war, wurde er am 1. Januar 1951 in den Oldenburgischen Kirchendienst übernommen und am 16. Dezember zum Pfarrer von Wiarden im Wangerland berufen.

Seine Dienstzeit in Neuenkirchen endete am 30. Juni 1972. In seinen letzten zweieinhalb Amtsjahren versah er zusätzlich den Dienst als Kreispfarrer des Kirchenkreises Vechta 29.

 

   Studt war der vorerst letzte Pfarrer, der neben Neuenkirchen auch Fladderlohausen zu versorgen hatte. Am 5. Dezember 1967 war in der neu gegründeten Kapellengemeinde Fladderlohausen eine Pfarrstelle errichtet worden, deren erster Inhaber von 1970 bis 1975 Pfarrer Martin Haas war, nachdem er schon zum 16. Oktober 1968 dort seine Tätigkeit aufgenommen hatte 30. Walter Studt verbrachte seinen Ruhestand in Hörsten, verstarb dort am 18. Februar 1981 und wurde fünf Tage später auf dem evangelischen Friedhof in Neuenkirchen beigesetzt.

 

   In den sechzehn Jahren seines Dienstes wurde die Kirchengemeinde zwei Mal visitiert, 1958 und 1967. Aus den Unterlagen von 1958 werden zwei Konfliktfelder deutlich, denen sich der Gemeindekirchenrat gegenüber sah. Einmal wird die „Angelegenheit der Räumung des Pfarrhauses von seinen bisherigen Zwangsmietern“ verhandelt. Im Jahr 1956 hatte der Gemeindekirchenrat die Oberwohnung im Pfarrhaus neu vermietet. Die „Hauptschwierigkeit“ aber sah der Visitator, Oberkirchenrat Rühe, in dem „Verhältnis zu dem s.Zt. von Pastor Roth gegründeten Chor ...“. „ Ihren Anlass hat diese Schwierigkeit in den Vorkommnissen am Reformationsfest des vorigen Jahres, an dem Pastor Studt in der Predigt das Verhalten der Chormitglieder gerügt hat. Es ist schwer festzustellen, ob das Verhalten der Chormitglieder wirklich so war, dass diese Rüge erforderlich wurde. Der Organist Hörmann bestreitet das entschieden, während es Pastor Studt ebenso nachdrücklich behauptet. Herr Hörmann erwartet von Pastor Studt, dass er sich entschuldigt; umgekehrt stellt Pastor Studt die Forderung, dass die Chormitglieder bzw. Herr Hörmann sich bei ihm entschuldigen sollen. Der Gemeindekirchenrat stellt sich überwiegend auf die Seite von  Pastor Studt“ 31. Herr Hörmann blieb zwar bis zu seiner Pensionierung 1964  als Hauptlehrer der evangelischen Schule auch Organist der Apostelkirche, der Chor aber trat für viele Jahre nicht mehr im Gottesdienst auf. Die kulturellen und theologischen Unterschiede zwischen dem strengen Lutheraner Studt und dem eher liberalen Pädagogen Hörmann entzündeten sich an der Frage der Aufgabe eines evangelischen Kirchenchores - streng liturgische Schola oder Gesangverein im evangelischen Millieu mit Auftritten in und außerhalb der Kirche. Im letzteren Sinne hatte Hörmann den Chor im Jahre 1936 von seinem Gründer Karl Roth übernommen. Als Pensionär zog Hörmann in seine Ammerländer Heimat zurück. Den Organistendienst versah fortan Frau Margarete Kliem.

 

   In die Amtszeit von Pastor Studt fällt 1961 auch die Umgestaltung der Apostelkirche, die nahezu aller Ausschmückungen ihrer Entstehungszeit beraubt und im Geiste der damaligen Zeit radikal purifiziert wurde. Es verblieben nur das Taufbecken, die Kanzel sowie die Aposteldarstellungen und zwei Wappen in den Fenstern der Seitenschiffe. Die drei mittleren Fenster des Chorraumes wurden mit Glasmalereien versehen, die der Delmenhorster Kirchenmaler Hermann Oetken entworfen hatte. Außerdem erhielt die Kirche erstmals eine Heizung sowie vier neue Glocken, nachdem 1942 kriegsbedingt zwei hatten abgegeben werden müssen.

 

   Das nach dem Neubau der evangelischen Schule im Herrengarten frei gewordene Schulgebäude am Kirchplatz wurde nach den Plänen des Architekten Krey aus Dinklage zum evangelischen Gemeindehaus umgebaut. Außerdem wurde auf dem Friedhof eine Leichenhalle errichtet.

 

   Die Anzahl der Gemeindeglieder stabilisierte sich bei etwa 750 Menschen, so die Angaben anlässlich der Visitationen 1958, 1967 und auch noch 1976. Viele Flüchtlinge und Heimatvertriebene hatten Neuenkirchen nach der unmittelbaren Nachkriegszeit wieder verlassen, weil sie in anderen Regionen der jungen Bundesrepublik Arbeitsplätze gefunden hatten.

   Im Jahre 1972 wurde der am 9. September in Magdeburg geborene und vorher in Blexen tätige Pfarrer Gottfried Maaß nach Neuenkirchen berufen. Als Vorsitzender des Oldenburger Gustav-Adolf-Werkes besaß er gleichsam eine natürliche Affinität zur Ausübung des Predigtamtes in einer so geschichtsträchtigen Diasporagemeinde wie Neuenkirchen. Im Jahr nach seinem Aufzug etablierte er das Kirchweihfest unter Aufnahme des früher gepflegten evangelischen Kinderschützenfestes wie des Einweihungsdatums der Apostelkirche am 30. Juni 1891. 1975 gelang es ihm mit Hilfe des Lehrers und Organisten Wilhelm Becker den “Gemischten Chor“ wiederzubeleben. Seine Ehefrau Ingrid Maaß und seine Tochter Christiane Maaß haben den Chor bis zu seiner Emeritierung 1996 geleitet. Wie auch in vielen anderen evangelischen Gemeinden der damaligen Zeit kam es zur Gründung vieler Gemeindekreise etwa für Senioren, Männer, Frauen und Pfadfinder. Ein Hausbibelkreis entstand auf Initiative des Kirchenältesten Dr. Michael-Matthias Kramer und seiner Ehefrau Jutta Lenz-Kramer.

1977 konnte Maaß seinen Wunsch nach einer Vergrößerung der Räumlichkeiten für Gemeindeaktivitäten mit einem Anbau an das bestehende Gemeindehaus erfüllt sehen. Die Orgel wurde renoviert. Von 1981 an wurde der Innenraum der Kirche in Anlehnung an die ursprüngliche Bemalung und durch ein neues Beleuchtungskonzept renoviert. 10 Jahre später wurde der Altar neu gefasst, indem über die ursprüngliche Prädella das alte lutherische Altarbild aus der Simultankirche platziert und dieses von zwei Tafeln flankiert wurde, in die die Einsetzungsworte zum Abendmahl eingeschnitzt sind.

 

   Mit großem Aufwand wurden verschiedene Jubiläen gefeiert: 1991 -100 Jahre Apostelkirche, 1993 - 450 Jahre Reformation in Neuenkirchen sowie 1997 - 100 Jahre Gemischter Chor.

 

   Die Dienstjahre Gottfried Maaßens gehen einher mit einer spürbaren Entkrampfung des Verhältnisses der beiden das Kirchspiel Neuenkirchen prägenden Konfessionen. Seit der Neuregelung der Ehevorschriften im Anschluss an das Zweite Vatikanische Konzil kam es vermehrt zu dem, was man in früherer Zeit als möglichst zu vermeidende „Mischehe“ bezeichnete. Nun sprach und spricht man volkstümlich und wohlmeinend von „ökumeni-schen Trauungen“. Auch sonst blühten die Kontakte und gemeinsamen Aktivitäten zwischen den beiden Kirchengemeinden auf, die sich in gemeinsamen Gottesdiensten wie am alljährlichen Weltgebetstag oder in ökumenischen Gesprächsabenden ausdrückten. Ein Höhepunkt war 1994 die ökumenische Studienfahrt ins Heilige Land.

 

   In den letzten Dienstjahren von Gottfried Maaß erlebte die Kirchengemeinde einen Anstieg der Anzahl ihrer Glieder. Zum einen handelte es sich um Menschen, die in der aufblühenden Wirtschaftsregion des Oldenburger Münsterlandes eine Arbeitsstelle fanden - unter anderem auch und gerade in den karitativen Einrichtungen der Clemens-August-Stiftung sowie der Fachklinik St. Marien-Stift -, zum anderen und mehr noch um Menschen, die nach dem Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetunion als deutschstämmige Aussiedler nach Deutschland kamen.

 

   Diese Menschen, die zumeist im weiteren Sinne evangelische Wurzeln besaßen, galt und gilt es in ihrer neuen Heimat gerade auch religiös zu integrieren. Die Einträge in den Kirchenbüchern seit 1990 bezeugen eine Vielzahl von Nachtaufen und Nachkonfirmationen von Menschen dieser Herkunft. Maaßens Dienstzeit in Neuenkirchen endete am 31. Dezember 1996. Als Emeritus blieb er hier wohnen und verstarb am 21. August 2006. Die Beerdigung fünf Tage später auf dem evangelischen Friedhof vollzog der lutherische Pfarrer Klaus Rabe aus Vörden.

 

 

9. Ein Blick in die Gegenwart

 

Im Sommer 1997 wurde der Verfasser dieser Ausführungen, Pastor Jens Möllmann, 1961 in Wilhelmshaven geboren und zuvor als Vikar und Pfarrer in Blexen und Esenshamm tätig, als Pfarrer an der Apostelkirche eingeführt. Als ordinierte Pastorin im Ehrenamt wurde seine Ehefrau Friedgard Möllmann geb. Erasmus vom Oberkirchenrat ebenfalls an die Gemeinde gewiesen. Über die Jahre ihres Dienstes in Neuenkirchen und die damit verbundene Entwicklung des evangelischen Lebens in und um die Apostelkirche muss eine spätere Festschrift berichten.

Nur eine wichtige Notiz zum Schluss: Nach langjährigen Verhandlungen zwischen den ev.-luth. Kirchengemeinden Neuenkirchen auf der einen sowie Vörden und Hesepe-Rieste auf der anderen Seite, nach Beratungen und Vertragsverhandlungen zwischen den Kirchenleitungen in Oldenburg und Hannover wurden der Kirchengemeinde Neuenkirchen am 1. Januar 2008 einige Teile der Gebiete wieder zugeführt, die sie im Zuge der Grenzbereinigung im Jahre 1817 verloren hatte. Bis auf einen kleinen Straßenzug in Hörsten westlich der Autobahn 1 ist diese nun südöstliche Grenze der Kirchengemeinde. Außerdem wurden Teile von Bieste i. Hannover umgepfarrt. Am 31. Dezember 2008 gehörten 1077 evangelische Christen zur Apostelkirche in Neuenkirchen.

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